20 Jahre Tschernobyl: Zwischen 4000 und 60 000 Todesfälle
Stand: 25.04.2006
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Hamburg (dpa) Die Spanne der geschätzten Todesfälle durch den Unfall von Tschernobyl ist groß: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die kernkraftfreundliche Internationale Atomenergie-Organisation (IAEA) schätzen die Zahl auf 4000 Menschen, die wegen des Unfalls bislang gestorben sind oder noch sterben könnten. Der von der Europaabgeordneten Rebecca Harms (Grüne) in Auftrag gegebene Torch-Report kommt auf 30 000 bis 60 000 Krebstodesfälle - ein Großteil davon in Europa außerhalb der Risikogebiete in der Sowjetunion. Die Organisation Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) geht von noch weit höheren Zahlen aus, insbesondere für die Aufräumarbeiter.
Die Menschen in Deutschland haben laut Kellerer durch Tschernobyl im Durchschnitt insgesamt eine halbe Jahresdosis der natürlichen Strahlung erhalten. Von 40 000 Menschen, so schätzt Kellerer, könnte daher einer zusätzlich an Krebs sterben. Dies sei zwar im Vergleich zu den in dieser Gruppe ohnehin zu erwartenden 10 000 Krebstodesfällen verschwindend gering. "Andererseits entspräche die so errechnete Erhöhung unter den 82,5 Millionen Deutschen insgesamt immerhin mehr als 2000 zusätzlichen Krebstodesfällen", berichtet Kellerer und kritisiert die WHO: "Geringe Dosen unter ein Millisievert wurden im WHO-Bericht weggelassen."
Einig sind sich die meisten Forscher darin, dass mehrere Dutzend Aufräumarbeiter (Liquidatoren) direkt an akuter Strahlenerkrankung gestorben sind und weitere an Leukämie. Zudem gibt es Hinweise auf vermehrte Brustkrebsfälle in einigen stark betroffenen Gebieten der Sowjetunion. Unstrittig ist ein Anstieg der Erkrankungen an Schilddrüsenkrebs insbesondere bei damaligen Kindern in dieser Region. Ursache war vor allem radioaktives Jod aus der Milch belasteter Kühe. Dies zerfällt zwar relativ rasch, der Krebs aber kann Jahre und Jahrzehnte später ausbrechen. Kellerer verweist auf den erheblichen Verlust an Lebensqualität dieser Patienten: Nötig seien meist eine Operation und die lebenslange Einnahme von Hormonen.
Wissenschaftlich umstritten ist dagegen die Wirkung sehr geringer Strahlendosen. Die meisten Forscher gehen davon aus, dass jede noch so kleine Strahlendosis eine Auswirkung haben kann. Andererseits sind etwaige geringe Erhöhungen der Krebszahlen statistisch kaum zu erfassen, auch wegen der langen Latenzzeit bis zum Ausbruch der Krankheit. Ärzte können nicht erkennen, ob ein Krebs durch Strahlen ausgelöst wurde. Kellerer gibt zudem zu bedenken, dass nach Tschernobyl neu eingerichtete oder verbesserte Krebsregister mehr Fälle entdecken als frühere Systeme. Er geht davon aus, dass dies wenigstens teilweise die um 23 Prozent erhöhten Raten der gesamten Krebsfälle in besonders belasteten Gebieten von Weißrussland bedingt.
Höhere Krebsraten bei Liquidatoren seien bisher nur für Leukämie (Blutkrebs) ermittelt, und auch das nur mit "beträchtlicher Unsicherheit", schreibt Kellerer im GSF-Sonderheft "Strahlung". Allerdings sinke die Lebenserwartung seit dem Niedergang der Sowjetunion bei den männlichen Einwohnern um mehrere Jahre. Gründe seien Alkoholmissbrauch, Aids, steigende Unfallzahlen und Selbsttötungen. Dies gelte verstärkt für die Liquidatoren. "Wenn dafür auch nur teilweise die durch Strahlenexposition motivierte Resignation verantwortlich ist, so übersteigt dieser Effekt die direkte Wirkung der Reaktorkatastrophe auf tragische Weise", schreibt Kellerer.
Eine mögliche Erhöhung der Krebstodesrate bei den Liquidatoren von zehn Prozent sei zwar bedauerlich hoch, sie rechtfertige jedoch nicht eine bis zum Fatalismus reichende Verunsicherung der Männer, meint Kellerer. Hauptursache der psychischen Auswirkungen sei die mangelhafte Information gewesen. "Das Versagen der Risikokommunikation wird zum größten Risiko."
Laut Torch-Bericht gibt es auch bei Grauem Star und Herz- Kreislauf-Erkrankungen einen Anstieg. "Die gesamten Folgen